1. Sinn und Zweck
Durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts können die Steuergesetze nicht umgangen werden. Liegt ein Missbrauch vor, so entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht. Die vom Stpfl. angestrebte Anwendung des ihm günstigen Gesetzes wird verweigert.
Ein Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten i.S.d. § 42 AO ist gegeben, wenn eine rechtliche Gestaltung gewählt wird,
die zur Erreichung des erstrebten Ziels unangemessen ist,
der Steuerminderung dienen soll und
durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche nichtsteuerliche Gründe nicht zu rechtfertigen ist (BFH Urteil vom 19.6.1991, IX R 134/86, BStBl II 1991, 904; vom 21.11.1991, V R 20/87, BStBl II 1992, 446).
Bei der rechtlichen Gestaltung wirtschaftlicher Vorgänge ist der Stpfl. im Rahmen der Gesetze frei. Auch aus steuerrechtlicher Sicht ist grundsätzlich von der gewählten rechtlichen Gestaltung auszugehen. Das Motiv, Steuern zu sparen, macht eine rechtliche Gestaltung noch nicht unangemessen.
2. Prüfungsmaßstab des § 42 AO
Mit Urteil vom 10.12.1992 (V R 90/92, BStBl II 1993, 700) hat der BFH wie folgt entschieden:
Die Anwendung des § 42 AO setzt die Umgehung des Steuergesetzes durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts voraus. Ob eine solche Umgehung vorliegt, ist für jede Steuerart gesondert nach den Wertungen des Gesetzgebers, die den jeweils maßgeblichen steuerrechtlichen Vorschriften zugrunde liegen, zu beurteilen.
Mit seinem Grundsatzurteil vom 17.11.2020 (I R 2/18, BStBl II 2021, 580) hat der BFH erstmals zum Verhältnis von § 42 AO zu speziellen Missbrauchsnormen Stellung genommen und das Konkurrenzverhältnis neu geordnet. Aus dem Urteil lässt sich folgende Prüfungsreihenfolge ableiten:
Liegt einer speziellen Missbrauchsvorschrift in den Einzelsteuergesetzen vor? Wenn nein:
Prüfung des § 42 AO:
Ist die Gestaltung unangemessen unter Beachtung der Wertung der speziellen Missbrauchsvorschrift? Wenn ja:
Führt die Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil? Wenn ja:
Kann der Stpfl. beachtliche außersteuerliche Gründe für die Gestaltung nachweisen? Wenn nein: § 42 AO greift!
3. Missbräuchliche Anwendung des Rechts
Kennzeichnend für eine missbräuchliche Gestaltung ist, dass der Stpfl. nicht die vom Gesetzgeber vorausgesetzte »angemessene« rechtliche Gestaltung zum Erreichen bestimmter wirtschaftlicher Ziele gebraucht, obwohl dafür beachtliche außersteuerliche Gründe nicht vorliegen, sondern einen ungewöhnlichen rechtlichen Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel, Steuern zu sparen, nicht erreichbar sein soll.
Geht dem Darlehen einer minderjährigen Tochter an einen Elternteil eine Schenkung des anderen Elternteils voraus und liegt diesen Rechtsgeschäften ein Gesamtplan der Eltern zur Schaffung von Werbungskosten zugrunde, so kann hierin ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts i.S.d. § 42 AO liegen (BFH Urteil vom 26.3.1996, IX R 51/92, BStBl II 1996, 443). Einem Kind ist es zwar nicht schlechthin versagt, seinen Eltern aus seinem Vermögen ein Darlehen zu gewähren. Eine unangemessene Gestaltung liegt jedoch dann vor, wenn dem Darlehen eine Schenkung der Eltern vorausgeht und den Vereinbarungen über Schenkung und Darlehenshingabe ein Gesamtplan der Eltern zugrunde liegt, der – wie im Streitfall – nur vor dem Hintergrund der Schaffung von Werbungskosten verständlich wird.
Ein Gestaltungsmissbrauch liegt demnach vor, wenn der Stpfl. einen angemessenen Weg vermeidet und stattdessen einen Weg beschreitet, der zwar nach der Wertung des Gesetzgebers ebenfalls besteuerungswürdig ist, aber als solcher keinen Steuertatbestand erfüllt.
Unangemessene Rechtsgestaltungen sind zumeist
umständlich,
kompliziert,
schwerfällig,
unökonomisch,
gekünstelt,
unnatürlich,
absonderlich,
überflüssig,
widersinnig oder
undurchsichtig.
Angemessene Gestaltungen sind demgegenüber
einfach,
zweckmäßig und
übersichtlich.