Risiko – das sollten Investoren wissen
In der Finanzwelt bedeutet «Risiko» etwas anderes als in der Umgangssprache. Damit haben manche Anleger Mühe, aber auch einige Grossbanken.
Die US-Bank Goldman Sachs hielt sich während der Finanzkrise an ihre Modelle und beharrte darauf, dass erlittene Verluste «fundamental nicht gerechtfertigt seien».
Am Anfang der globalen Finanzkrise machte der damalige Finanzchef von Goldman Sachs, David Viniar, mit einer Bemerkung auf sich aufmerksam, die an Absurdität kaum zu überbieten war. Er behauptete, die Finanzwelt habe Kursbewegungen beobachtet, welche einer Standardabweichung 25 entsprachen, und das an mehreren Tagen hintereinander.
Um einschätzen zu können, wie realitätsfern diese Bemerkung war, hilft die folgende Tatsache: Wer 14 Mrd. Jahre wartet, also so lange, wie unser Universum existiert, sieht normalerweise nicht einmal ein Ereignis von 9 Standardabweichungen.
Aber Viniar glaubte offenbar lieber daran, dass die Finanzwelt gerade Zeuge der aussergewöhnlichsten Periode seit dem Urknall geworden war, als seine Risikomodelle infrage zu stellen. Dabei hatten viele Banken einen peinlichen Anfängerfehler gemacht:
Sie hatten Risiko und Unsicherheit verwechselt.Der Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit
Der Begriff «Risiko» gilt für Situationen, in denen die Verteilung vergangener Ereignisse ein zuverlässiger Hinweis auf die zukünftigen Ereignisse ist.
Diese Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit Wahrscheinlichkeiten beschreiben lassen, wobei die Eintrittswahrscheinlichkeit einzelner Ereignisse mit statistischen Verfahren zuverlässig geschätzt werden kann. Wenn beispielsweise bei einem viele Male wiederholten Münzwurf in ungefähr der Hälfte der Fälle die Zahl-Seite zu sehen ist, kann man davon ausgehen, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird. Würde jemand eine Wette darauf anbieten, dass in Zukunft nur in 40% der Fälle die Zahl oben zu liegen kommt, sollte man die Wette annehmen. Denn die Münze wird natürlich weiterhin in 50% der Fälle Kopf und in 50% der Fall Zahl anzeigen.
Der Begriff «Unsicherheit» dagegen gilt für Situationen, in denen die Vergangenheit keinen verlässlichen Hinweis auf zukünftige Ereignisse liefert. Hier ist es nicht möglich, aus vergangenen Ereignissen die Eintrittswahrscheinlichkeiten zu berechnen. So ist Roger Federer seit 1999 jedes Jahr in Wimbledon angetreten und hat das Tennisturnier acht Mal gewonnen, eine Erfolgsquote von 38%. Aber es wäre nicht klug, daraus zu schliessen, dass er im Jahr 2020 eine Chance von 38% hat, dieses Turnier erneut zu gewinnen.Anleger haben es vor allem mit Unsicherheit zu tun
Es stellt sich natürlich die Frage, welche Situationen unseres Alltags durch Risiko gekennzeichnet sind und welche durch Unsicherheit. Vor allem, wenn es um die Aktionen (und Interaktionen) von Menschen geht, herrscht Unsicherheit. Auch Märkte und Finanzprodukte zeichnen sich durch Unsicherheit aus und nicht durch Risiko.
Deswegen schreiben die Anbieter von Finanzprodukten den folgenden, wohlbekannten Satz in die Prospekte: Die vergangene Performance ist kein Indikator für die zukünftige Wertentwicklung.
Mit Risiko lassen sich dagegen vor allem Situationen beschreiben, die künstlich mit dem Ziel konstruiert wurden, ihnen berechenbare Wahrscheinlichkeiten zugrunde zu legen, beispielsweise Glücksspiele.
Eine zweite Gruppe bilden zudem manche Versicherungen (wobei allerdings den Versicherungen für Finanzprodukte normalerweise Unsicherheit zugrunde liegt).
Der Umstand, dass sich Investitionen und Märkte nicht gut mit aus der Vergangenheit abgeleiteten Wahrscheinlichkeiten beschreiben lassen, ist für professionelle Anleger ein grosses Problem. Was also ist die Lösung? Die Finanzakteure tun einfach so, als liessen sich soziale Phänomene wie Märkte mit Wahrscheinlichkeiten quantifizieren.
Mit anderen Worten: Sie behandeln Finanzanlagen und Märkte als Risiken, obwohl sie in Tat und Wahrheit der nichtquantifizierbaren Unsicherheit unterliegen.
Viele Risikoberechnungen sind falsch und trotzdem nützlich
Das ist nicht so unvernünftig, wie es den Anschein macht. Denn in ruhigen Zeiten, also die meiste Zeit über, liefern auf Risiken basierende Modelle brauchbare Resultate. Zudem sind Menschen nicht gut darin, vollkommen rational und vorurteilsfrei zu urteilen. Quantifizierungen und Berechnungen können dabei helfen, menschliche Schwächen bei der Urteilsfindung zu minimieren, auch wenn sie nicht die Realität abbilden.
Das gilt insbesondere für Entscheidungen im Finanzbereich. Denn dort ist die Gefahr besonders groß, aufgrund eines Gefühls wie Angst, Gier oder Hoffnung falsche Entscheidungen zu treffen. Risikoberechnungen können also der Objektivierung von Entscheidungen dienen, und sie können Rationalitätsbeschränkungen im Zaum halten. Der Preis dafür: Es ist leicht, die Präzision der Zahlen mit einer präzisen Abbildung der Wirklichkeit zu verwechseln.
Genau das ist aber vielen Banken passiert. In den Monaten und Jahren vor der Finanzkrise haben sie schlicht vergessen, dass der Realität der Märkte Unsicherheit zugrunde liegt und nicht Risiko.
Die Banken hatten begonnen, ihre Modelle für die Realität zu halten. Das führte schließlich zu massiven Verlusten und zeugt nicht gerade von überragender Kompetenz.
Anleger sollten aus der Inkompetenz der Banken jedoch nicht schließen, dass Risikokennzahlen nutzlos sind.
Im Gegenteil: Für viele Anlageentscheide von Privatinvestoren können sie entscheidende Informationen liefern. Insbesondere lassen sich anhand von Risikokennzahlen leicht unterschiedliche Fonds und ETF miteinander vergleichen. Deswegen ist es lohnend, sich über die wichtigsten Risikokennzahlen zu informieren und sie auch für Investmententscheide heranzuziehen.
Privatanleger sollten sich einfach bewusst sein, dass sie eine Heuristik nutzen, keine Zauberformel. Dann allerdings haben sie manchen Banken bereits einiges an Kompetenz voraus.